50 Plus

Neulich bekam ich ein Kompliment, welches mit den Worten „…für dein Alter“ endete. Es lässt sich nicht leugnen, ich bin keine Zwanzig mehr. Die Röntgen-Schwester fragt vor dem Röntgen nicht mehr, ob ich schwanger bin und im Supermarkt muss ich nicht den Ausweis zeigen, um an Alkohol oder Zigaretten zu kommen. Neulich liefen drei kleine Jungen durch unsere Siedlung. Sie hatten Spielzeug aus ihrem Kinderzimmer aussortiert und klingelten an den Türen, um es zum Kauf anzubieten. Ich putzte gerade Fenster, als einer der Jungen mich fragte, ob ich etwas davon kaufen möchte. Ich verstand nicht gleich, was er meinte und fragte noch einmal nach. Also wiederholte er, ob ich Spielzeug kaufen wolle, für die Kinder und nach Zögern fügte er hinzu: „….oder für die Enkel.“

Nein, es lässt sich nicht leugnen, ich bin nicht nur keine Zwanzig mehr, sondern mittlerweile in einem Alter, wo man mir durchaus Enkel zutraut. Und wenn man mir ein Kompliment macht, wird es durch den Zusatz „…für dein Alter.“ ergänzt. „Du siehst gut aus für dein Alter.“, sagte das nicht die brave Ehefrau zu ihrem von zahlreichen Zipperlein geplagten Mann in jenem Gedicht, welches ich meinem Vater an seinem 60. Geburtstag widmete und welches mit den Worten: „Vorne grau und hinten kahl, ach die Jugend war einmal…“ begann? Gehöre ich jetzt selber dazu? Zum alten Eisen? Wann ist man jung? Wann alt? Ich meine nicht, wie man sich fühlt, sondern für seine Mitmenschen?

In einem Ratgeber las ich neulich einen Rat für eine Frau von reichlich Mitte Dreißig. Sie wollte sich selbständig machen und wusste nicht recht, ob sie es wagen sollte oder nicht. Sie bekam die Antwort, sie sei noch so jung, sie könne alles machen, was sie sich zutraue. Aha, mit 37/38/39 ist man also noch „so jung“ und mit 50+ ist man plötzlich alt? Zumindest in den Augen der Gesellschaft. Muss ich jetzt einen Seniorenteller im Restaurant bestellen? Ich fühle mich doch noch jung! Gleichzeitig weiß ich, dass das nicht stimmt. Jedenfalls nicht immer. „Ich spüre heute wieder jeden Knochen.“ Über diesen Satz wunderte sich eine Kollegin, erzählte sie mir einmal. Sie hörte diesen Satz bei älteren Kollegen und fragte sich, wie das wohl gemeint sei. Wie könne man jeden Knochen fühlen? Inzwischen weiß sie es längst.

Freitag, Feierabend, Wochenende, hinaus ins Nachtleben! Wann habe ich zum letzten Mal so gedacht? Es war wohl mit 20. Mit 30 hatte ich dazu keine Lust mehr und auch keine Möglichkeit, wegen der Kinder. Da dachte ich: „Endlich! Freitag, Feierabend, Wochenende, nach Hause gehen und sich aufs Sofa fallen lassen! Beim Fernsehen einschlafen, dazu ein Glas Wein. Wunderbar!“ Heute denke ich: „Freitag – Feierabend – Sofa.“ Wein brauche ich nicht mehr zum Einschlafen. Inzwischen trinke ich abends wieder Milch.

In der Straßenbahn sehe ich manchmal Mütter mit Kleinkindern. Die Mütter sehen kaum merklich jünger aus als ich und ich denke bei mir: „Woher nehmen die die Kraft, noch kleine Kinder aufzuziehen?“ Dass es Kraft kostet, weiß ich genau. Schließlich habe ich selbst zwei Kinder allein großgezogen mit allem, was dazu gehörte. Als meine weiblichen Zeitgenossen bereits anfingen, so ein blödes Grinsen beim Anblick von Babys aufzusetzen und von Enkelkindern faselten, wusste ich ganz genau, was ich nicht wollte: Enkelkinder. Noch nicht, jedenfalls. Gerade waren die eigenen Kinder erwachsen. Gerade erst fand ich wieder Zeit für mich. Das letzte Mal hatte ich die, als ich mit Anfang Zwanzig in meine erste eigene Wohnung gezogen war und noch keine Kinder hatte. Mehr als zwanzig Jahre habe ich mich um die Familie, um den Haushalt, um die Kinder gekümmert und ging dabei noch Vollzeit arbeiten und nun will man mir die Enkelkinder (symbolisch) in den Arm drücken? Nein, danke!

Heutzutage bekommen viele Frauen ihre ersten Kinder erst mit 30 Jahren oder später. Die Zeiten haben sich eben geändert. Man macht erst Karriere und dann Familie. Viele machen beides gar nicht und ein Teil macht nur Familie. Der Staat unterstützt es. Unterstützt hat das „Familie machen“ auch die DDR. Man kam schneller an eine eigene Wohnung, wenn man Kinder hatte, bekam Kindergeld, einen Ehekredit und vom Ehekredit (Kredit ohne Zinsen) wiederum für jedes Kind, welches in der Familie geboren wurde, einen Teilbetrag erlassen.

Berufstätige Frauen bekamen in der DDR einen bezahlten Haushaltstag pro Monat. Der Ehekredit musste bis zum 26. oder 27. Lebensjahr beantragt werden bzw. man musste dafür bis dahin verheiratet sein, um ihn zu beantragen. Spätestens. Sonst verschenkte man das Geld und wer hatte schon Geld zu verschenken? Schließlich handelte es sich um eine vierstellige Summe, welche man zinslos bekam. Beim ersten Kind wurden davon 1000 Mark erlassen, beim zweiten noch einmal 1500 Mark. Das geschah auch, wenn die Kinder vor der Ehe geboren wurden. Sie wurden nach der Eheschließung dem Ehekredit angerechnet. Die meisten jungen Leute heirateten also zeitig und bekamen dann auch alsbald ein, zwei Kinder. Wer heutzutage in jungen Jahren Kinder bekommt, hat wenige Chancen, danach wieder im Beruf Fuß zu fassen. Auch das war zu DDR-Zeiten kein Thema. In der DDR gab es (zumindest offiziell) keine Arbeitslosen. Egal, wie viele Kinder du bekamst, du konntest jederzeit wieder arbeiten gehen. Du bekamst als Frau Arbeit, auch wenn du oft wegen (Kinder-) Krankheit ausfielst. Entlassung deshalb – das war unmöglich. Jetzt sieht das ganz anders aus und Elternzeit und Elterngeld können darüber nicht hinweg täuschen. Also überlegen sich viele Frauen das mit der Familie noch einmal gründlich. Darüber vergeht so manches Jahr. In dem Alter, in dem heutzutage Frauen ihr erstes Kind bekommen, hatte ich schon das „Gröbste“ hinter mir. Nun sind die Kinder erwachsen und plötzlich bin ich 50 Plus und sehe noch ganz gut aus – für mein Alter.

Einen neuen Job? Unmöglich. Niemand nimmt mich mehr. Da kann Frau von der Leyen so viel Unsinn schwafeln, wie sie will über die neue Generation der dynamischen Rentner, die noch arbeiten wollen und Arbeit haben, weil ihre Erfahrung geschätzt wird. Die meisten Rentner, die noch arbeiten, tun das, weil ihre Rente nicht reicht und nicht etwa, wie Frau von der Leyen meint, weil sie nicht wissen, wohin mit ihrer enormen Restenergie.

Für eine Beamtenlaufbahn ist es in meinem Fall definitiv zu spät und eine politische Karriere kommt aus verschiedenen Gründen nicht infrage. So viel lügen kann nicht einmal ich. Und das, obwohl ich mir seit der Wende so manche Notlüge angewöhnt habe, um zu überleben.

Muss ich mir das eigentlich in meinem Alter noch antun? fragte mich neulich meine Schwester. Sie findet, dass es ein Vorteil ist, zu den Älteren zu gehören, weil man bestimmte Dinge einfach nicht mehr mitmachen muss.

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